19.04.

das verhältnis von alicia elmore zu ihrem entführer und zigfachen vergewalter benefiel ist von außen kaum vorstellbar. was geht in einer jungen frau wohl vor, wenn er vier monate lang ununterbrochen der willkür und brutalität eines fremden mannes ausgesetzt ist?
in "der fremde in uns" leitet arno gruen (verkürzt gesagt) die hassgefühle des erwachsenen aus der abhängigkeit des kindes von seinen eltern ab: das kind erfährt von beginn seiner existenz an, dass es von der liebe der eltern abhängig ist - nicht nur psychisch, sondern auch physisch: wenn meine eltern mich nicht mögen, werde ich verhungern. somit ist die zuneigung der eltern für das kind wichtigstes lebenselixier. wenn die eltern nun sauer auf das kind sind und somit implizit oder explizit der liebesentzug droht, kann das kind nicht glauben, dass es sich hierbei um reine willkür handelt, da sein vertrauen in die liebe der eltern und damit in die eigene lebensfähigkeit sonst unmöglich aufrecht zu erhalten wäre - eine so unvorstellbare vorstellung für das in jeder weise abhängige kind, dass es eher dazu neigt, einen grund für das veränderte auftreten der eltern in seinem eigenen verhalten sucht. auf diese weise bekommt das kind unausgesprochen beigebracht, welche eigenschaften und handlungsweisen es abzulehnen hat. trifft der erwachsene später auf andere menschen, die die in der kindheit  auf diese weise abgelegten verhaltensweisen verkörpern, reagiert er mit hassgefühlen, die eigentlich dem hass auf den "fremden in uns" selbst entspringen.
gruens theorie folgend, kann man die these aufstellen, dass alicia elmore in den monaten der gefangenschaft gezwungen war, sich den wünschen und den forderungen ihres entführers anzupassen. er badet sie, bringt sie aufs klo, füttert sie. sie weiß - in dem moment, in dem er das interesse an ihr verliert oder sie zu einer gefahr für ihn zu werden droht, bringt er sie um. er macht sie in allen aspekten abhängig. um zu überleben, muss sie sich in sein system fügen, ihm das gefühl geben, sie spiele mit. ist ein spiel, ununterbrochen gespielt über vier ganze monate, vom spieler noch als spiel zu identifizieren? wohl kaum.
anders ist es kaum erklärbar, warum alicia weder auf der gemeinsamen fahrt ins krankenhaus noch in den drei monaten danach, in denen sie sich häufig frei und sehend im haus ihres entführers bewegen konnte, keinen fluchtversuch unternommen hat. selbst als die polizei sie aus ihrem versteck befreit, gibt alicia an, sie sei freiwillig dort. erst im krankenhaus, endgültig aus der abhängigkeit von benefiel befreit, beginnt sie langsam, sich von seiner dominanz zu befreien. dass sie ihm weder bei der gerichtsverhandlung noch bei späteren gelegenheiten zu gesicht kommen wollte, könnten als spätfolge dieses abhängigkeit komplexes zu deuten sein: schämt sie sich vielleicht auch der arrangements, die sie damals mit sich und ihm treffen musste, um zu überleben? ist sie sich unsicher, mit welchem gefühl sie ihm gegenübertreten würde und ob sie dann noch den mut hätte, ihn, den sie als so übermächtig erlebt hat, zu belasten? 

(cr)